November – Buch gebraucht kaufen

381350672X

(ISBN-13: 9783813506723)

leichte Gebrauchsspuren

12 x 19 x 3 cm

257

373 g

Hamburg

1. Aufl.

Leinen

Deutsch

Unverletzter Schutzumschlag - sehr sauber und gut erhalten.
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Schneider hat seine Position gegenüber den realen Vorgängen für die Roman-Handlung in zwei Hauptfiguren aufgespalten: die Schriftstellerin Natascha Roth und deren fünfzehnjährigen Sohn Stefan. Beide erzählen, über 45 Kapitel alternierend, die Geschichte einer durch West-Auto, West-Geld und West-Reisen privilegierten Intelligenz-Familie, die, abgehoben vom werktätigen Alltag der DDR, in die eigne Verletzlichkeit verliebt ist -- und zugleich an ihr leidet.

Bei Stefan ist psychische Dünnhäutigkeit Resultat einer körperlichen Behinderung: Auf dem Schulweg ist er von einem Auto angefahren worden, schrammt haarscharf an einer Querschnittslähmung vorbei, sieht eine Zeitlang verwirrende Doppelbilder. Das verliert sich, nicht jedoch das Unvermögen, die gesunde Umwelt fortan anders als distanziert zu sehen, doppelt differenziert nach Wirklichkeit und sprachlicher Verkleidung. Es ist die Geschichte der Schneider-Tochter Therese.

Natascha Roth, mit einem promovierten Kunsthistoriker jüdischer Herkunft verheiratet, ist examinierte Germanistin und gilt als literarischer Außenseiter. Sie hat über Joseph Roth geschrieben, über Rimbaud will sie arbeiten. Frankreich, Österreich und Glanz wie Elend der jüdischen Minderheit sind ihre geistigen Fluchtpunkte; es sind auch die Rolf Schneiders.

"Literaten", sagt Natascha Roth, sind "neurotisch, eitel, ungebildet und unsolidarisch wie sonst nur Tenöre". Eine Chance, wenigstens den letztgenannten Fehler zu überwinden, scheint die hinterhältige DDR-Ausbürgerung des Dichters Arnold Bodakov zu bieten, eines Kollegen "nachweislich" proletarischer Abkunft, der einst "dankbar Dschugaschwili" andichtete. Als Stalin erst den physischen und dann seinen politischen Tod stirbt, bewegt sich Bodakov "nicht bloß von Dschugaschwili fort, sondern auch von dem, wofür Dschugaschwili lange Zeit stand".

Bodakov veröffentlicht auch vor seiner Aussperrung nur noch im Westen. Natascha Roth erschrickt bei der Lektüre seiner Arbeiten gelegentlich "über den Ausdruck eines derart endgültigen Hasses auf das Land, in dem Bodakov lebt", und sie bewundert zugleich seine Radikalität. Ihr Mann sagt: "Er war ein Stalinist, jetzt ist er ein umgedrehter Stalinist."

Es ist dies Schneiders Verschlüsselung für den von ihm vermuteten Standort X des heute in Bayern lebenden Reiner Kunze. Bodakov, das ist offenkundig, ist ein Verschnitt aus Kunze und Biermann, wobei von letzterem nur wenig mehr als das Ausburgerungs-Schicksal entliehen ist. Und es ist mehr als das Hinterherschlagen auf einen ungeliebten Kollegen, der drüben wegging und hier Erfolg hatte; es sind zwei antagonistische Sichten auf dasselbe Deutschland.

Natascha Roths Romane werden in der Bundesrepublik als "kalkulierter Opportunismus" verrissen; ihr differenzierteres DDR-Bild unterliegt dem Negativ-Klischee Bodakovs. Auf ihr literarisches Image legt sich allmählich politisch-polemischer Schimmel, und der heißt: "Regimetreue". Ein Dichter-Kollege, Musäus mit Namen -- auch er unschwer dechiffrierbar -, denunziert sie auf einer Lesereise im Westen gar als MfS-Agentin.

Der Protest der aufgeschreckten Dichter gegen den Staatsakt der Ausbürgerung erweist sich als Strohfeuer. Einer nach dem anderen bricht den Pakt, indem er revoziert, in den Westen auswandert, privatisiert oder künftiges Wohlverhalten verspricht. Staatsschützer patrouillieren vor den Autoren-Wohnungen, Überredungsspezialisten werden vom zuständigen Ministerium vorgeschickt.

Dem Roth-Sohn widerfährt doppelte Entfremdung, daheim und draußen bei seinen Freunden. Alles wird falsch. Als Stefan ein Interview seiner Mutter im West-Fernsehen sieht, sieht und hört er eine fremde Frau. Auf dem Pflaster vor dem Haus steht eines Morgens: "Rot(h)e Judensau".

Natascha Roth probt in Gedanken den Exodus. "Es ist nichts korrigiert worden. Die Trümmer liegen herum, wir alle stehen dazwischen. War es das wert?" fragt eine Freundin. Natascha Roth sagt: "Ja: Aber sie weiß zugleich, daß sie nicht fortgehen kann. "Es gibt Zwänge, denen nur zu entkommen ist, wenn sie in der Vorstellung durchgeführt werden." Sie erbittet ihre alten Privilegien zurück und reist wieder ins Ausland, nach Frankreich. Der Sohn bringt sie zum Grenzübergang. Er nimmt sich vor, später alles anders zu machen.

(DER SPIEGEL)

1979

20.08.2024

GAST12B58